Die Innenstädte verarmen
Interview mit dem schwarzen Soziologen William Julius Wilson

Publiziert in der Wochenzeitung "Brueckenbauer" Nr.42 vom Oktober 1996

Weitere Informationen zu William Julius Wilson


Das Verschwinden der Arbeitsplätze ist für den amerikanischen Soziologen William Julius Wilson die Hauptursache für die Probleme von Verarmung und Kriminalität in den Schwarzen-Ghettos der US-Städte.


«Dank seiner Bücher», so urteilte der amtierende Präsident Bill Clinton, «sehe ich die Probleme von Rasse und Armut in den amerikanischen Städten heute in einem anderen Licht.» Das Nachrichtenmagazin «Time» zählt den schwarzen Soziologen, der an der Harvard-Universität lehrt, zur Gruppe der 25 einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes. Wilson ist unter den schwarzen Intellektuellen nicht unumstritten, weil er die wirtschaftliche Frage als wichtiger beurteilt als die Diskriminierung durch die Rasse.


«Brückenbauer»: Hat sich der Graben zwischen Schwarz und Weiss in den letzten Jahren vergrössert?
William Julius Wilson: Einerseits ist in den letzten Jahren immer mehr Schwarzen der Aufstieg in die Mittelklasse gelungen, anderseits fällt die verarmte Unterklasse in den Städten immer mehr zurück.

Wie kam es zur verstärkten Integration der Schwarzen in die Mittelklasse?
In den letzten 25 Jahren wurden viele Stellen für die Mittelklasse geschaffen. Der Arbeitsmarkt wurde für diese Bevölkerungsgruppe geöffnet. Dann wurden Schwarze auch ermuntert und gefördert, beispiels weise durch Quotenregelungen, sogenannte Affirmative-Action-Programme. Auch die Bürgerrechts bewegung hat dazu beigetragen.

30 Prozent der Schwarzen leben unter der Armutsgrenze. Dieser Anteil ist dreimal so gross wie bei den Weissen. Warum?
Viele Stellen für weniger qualifizierte Leute wurden wegrationalisiert. Das hat verheerende Auswirkungen in den Innenstadtquartieren, die heute häufig ausschliesslich von Schwarzen bewohnt werden. Diese Gegenden sind jetzt total verarmt. Es gibt dort eine enorm grosse Kriminalität. Bewaffnete Gangs terrorisieren die Bevölkerung. Oft sind die Schulen mehr Aufbewahrungsanstalten für Kinder als etwas anderes. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Das verschlimmert den Teufelskreis. Warum konzentriert sich diese Entwicklung auf die Innenstädte?
Die industrielle Arbeit in den Städten ist verschwunden. An ihre Stelle ist die Arbeit im Dienstleistungsbereich in den Vorstädten getreten. Vor 25 Jahren waren die schwarzen Quartiere der Innenstädte von einer armen, aber werktätigen Bevölkerung bewohnt. Heute kommt zur Armut die Arbeitslosigkeit dazu.

Sind auch Weisse vom Verschwinden der industriellen Arbeit und der Verlagerung der Arbeit in die Vorstädte betroffen?
Die schwarze Unterklasse in den Ghettos ist verarmt und kommt nicht mehr aus eigener Kraft von dort weg. Viele Menschen aus diesen Quartieren haben eine schlechte Ausbildung, die ihnen auf dem heutigen Arbeitsmarkt keine Chance bietet. Zudem konkurriert die schwarze Unterschicht heute auch mit den neuen Einwanderern aus Asien und Mittelamerika um die neuen Jobs.

Was hat dies für Auswirkungen auf die amerikanische Gesellschaft? Die klare Trennung zwischen den Innenstädten und den Vorstädten, wie wir sie heute beobachten, ist gefährlich, denn sie führt zu einer neuen Spaltung.

Sehen Sie auch Parallelen zur Situation in den europäischen Städten?
Ich war kürzlich in London und hatte den Eindruck, dass es auch dort solche Entwicklungen gibt. Die meisten europäischen Länder haben aber ein weit besseres Sozialsystem als wir, das ein Abgleiten der verarmten Bevölkerung in die Kriminalität verhindert. Ich weiss aber nicht, wie lange sich Europa dieses teure System noch wird leisten können.

Welche Lösungen sehen Sie für die Probleme der amerikanischen Innenstädte?
Wir brauchen eine langfristige Perspektive. Dazu gehören Verbesserungen bei Schule und Ausbildung. Dann müssen neue Stellen geschaffen werden. Weiterhin braucht es auch die Quotenregelungen. Solche Programme sind zwar teuer, aber wir können sie bezahlen, wenn wir diese wichtigenFragensoernstnehmen,wie sie in Wirklichkeit sind. Es hat keinen Sinn, nur Kosmetik zu betreiben.


Im Sommer '96 zählte TIME den schwarzen Soziologen William Julius Wilson zu den 25 einflussreichsten Persönlichkeiten in den USA.

Kurzbiographie (via Harvard) von Wilson und ein Aufsatz von ihm aus dem Jahre 1988

Sein neustes Buch "When Work Disappears" ist nicht unumstritten: Joe Klein, Kolumnist bei "Newsweek" setzt sich in der Zeitschrift "The New Republic" kritisch damit auseinander.


- Briefe - Links
Frontpage - English Page - Minderheiten - IKRK- Rumänien - , USA, Vietnam, - Eritrea - Böhmen - Multimedia&Co.- Postkarten - Quotes - Books - Personal