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Medien und Informatik 
Freitag, 27. August 1999 
 

Computerspiele sind keine Kinderspielzeuge 

Die nächste Generation der Spielkonsolen soll den Personalcomputern Konkurrenz machen 

Von Dominik Landwehr* 

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Im nächsten Monat wird Sega in den USA und in Europa mit grossem Marketing- und Werbeaufwand eine neue Spielkonsole auf den Markt bringen. Auf der Basis von Windows CE und mit einem 128-Bit-Risc-Prozessor von Nec, einem leistungsfähigen Graphikbeschleuniger und einem eingebauten Modem für den Internet-Zugriff setzt dieses Gerät bei den Spielkonsolen wie auch bei den Heim-PC neue Massstäbe. Doch die Konkurrenz hat sich gegen die Herausforderung gewappnet. Sony als Marktführerin hat zum einen die Verkaufspreise für die entsprechenden Produkte gesenkt und plant zum andern, ebenfalls im September, detaillierter über das Nachfolgemodell der Playstation zu informieren.  

Computerspiele sind keine Spielzeuge. Sie sind Impulsgeber für die Weiterentwicklung der Computertechnik und ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Dies wurde nirgends so klar wie an der Electronic Entertainment Expo (E3), die vom Branchenverband Interactive Digital Software Association (IDSA) diesen Mai veranstaltet wurde. 55 000 Interessierte aus 70 Ländern pilgerten zu dieser Messe nach Los Angeles, um sich über die neusten Trends zu informieren und nicht weniger als 1900 neue Spiele anzusehen. 

Nach eigenen Angaben setzte die Branche im vergangenen Jahr 6,3 Milliarden Dollar um, andere Quellen reden gar von 9 Milliarden Dollar Umsatz. Sie verzeichnete - ebenfalls nach eigenen Angaben - ein Wachstum von 29 Prozent. Branchenvertreter, aber auch Analysten rechnen für die kommenden Jahre ebenfalls mit hohen Wachstumsraten. In den USA könnte der Umsatz für Computerspiele im laufenden Jahr den Umsatz, den die Kinos machen, zum erstenmal übertreffen. 

Räuber und Gendarm 

Auch die Zahlen aus der Schweiz lassen sich sehen: Bei ABC Software - einem der grössten Distributoren für Unterhaltungssoftware in der Schweiz - schätzt man das Marktvolumen für die ganze Schweiz auf 205 Millionen Franken. Davon entfallen 80 Millionen auf Spiele für den PC, 100 Millionen auf Konsolenspiele (Videogames). Der Bereich der sogenannten Edutainment Software - Unterhaltungs- und Informationssoftware - ist mit einem Volumen von rund 25 Millionen Franken eher klein. Giuseppe Carrabs, Geschäftsleiter von ABC Software, warnt vor einem übertriebenen Optimismus und zweifelt auch die grossen Wachstumsraten der Branche weltweit an. Die Software-Piraterie macht seiner Branche im Moment schwer zu schaffen: Im April und Mai erlebte seine Firma im Bereich der Software für die Sony Playstation einen Umsatzrückgang von bis zu 50 Prozent. Als Ursache wird die Software- Piraterie vermutet. Es gibt, so führt der Importeur aus, Läden, die mehr Lösungsbücher als CD- ROM verkaufen, was als Hinweis auf Piraterie zu werten sei. Gemäss Schätzungen der IDSA gehen den Spieleherstellern wegen der Software-Piraten jährlich 3,2 Milliarden Dollar verloren. 

Die Annahme, dass Computerspiele stets auf einem Computer gespielt werden, ist falsch, wenn man Computer mit PC oder Mac gleichsetzt. Videogames, die mit Hilfe sogenannter Konsolen gespielt werden, sind in der Computerspielbranche das Segment mit den grössten Wachstumsraten und entsprechenden Gewinnen für die Hersteller. Nach Angaben des britischen «Economist» sorgten die Verkäufe von Hard- und Software rund um die Playstation im vergangenen Jahr für knapp die Hälfte des gesamten operationellen Gewinns von Sony. Spielkonsolen - allen voran jene von Atari mit dem Pillenfresserspiel «Pac Man» - erlebten in den frühen achtziger Jahren ihre erste Blütezeit. Es waren dann japanische Firmen, angeführt von Sega und Nintendo, die nach dem Niedergang von Atari dieses Geschäft in den neunziger Jahren wieder aufleben liessen. Heute dominiert Sony Computer Entertainment diesen Markt mit einem Anteil von 65 bis 70 Prozent klar. Nintendo besetzt mit seiner Konsole Nintendo 64 eine - allerdings sehr starke - Minderheitsposition. Sega hat demgegenüber noch einen Anteil von einigen wenigen Prozenten. 

Die Spielkonsole als Web-Terminal 

Sony, Nintendo und Sega wollen in den nächsten Monaten neue Modelle auf den Markt bringen. Sega, die in den letzten Jahren grosse Marktanteile verloren hat, hofft mit Dreamcast auf ein Comeback. Das Gerät, das in Japan bereits im Handel ist, soll hierzulande gegen Ende September für knapp 400 Franken auf den Markt kommen. Es soll bezüglich der Graphikaufbereitung einen gängigen Pentium-II-PC übertreffen. Die wichtigste Neuerung dürfte aber das eingebaute V.90-Modem sein, das die Möglichkeit bietet, mit diesem rein äusserlich sehr einfachen Gerät aufs Internet zuzugreifen. Damit können Spieldaten ausgetauscht werden, und ein simultanes Spielen mit weit entfernten Partnern wird möglich. Mit einer zusätzlich erhältlichen Tastatur lässt sich das Gerät in ein vollwertiges Internet-Terminal verwandeln. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen auch ein DVD-Player angeboten werden sowie ein Zip-Laufwerk, mit dem die Internet-Daten gespeichert werden können. 

Frühestens im Herbst 2000 werden die neuen Konsolen von Sony und Nintendo erwartet, die mindestens ähnliche Eigenschaften aufweisen werden. Bei beiden soll ein DVD-Player integriert sein, wodurch die Geräte zu Zentren der Heimunterhaltung werden könnten. In Japan will Sony die Playstation bereits im Januar nächsten Jahres für rund 390 Dollar auf den Markt bringen. Dieser Preis deckt gemäss den Analysten von Merrill-Lynch die Produktionskosten nicht; die Verluste im Hardware-Geschäft sollen aber durch die Gewinne beim Verkauf entsprechender Software mehr als aufgewogen werden. 

Alle Hersteller von Konsolen pflegen beim Zusammenspiel von Hardware und Software derzeit noch proprietäre Schnittstellen. Die Spiele lassen sich zwischen den Konsolen nicht austauschen, die Konsumenten werden so an einen Hersteller gebunden. Spiele für Konsolen sind denn auch deutlich teurer als PC-Spiele. Emulatoren bedrohen nun aber dieses Geschäftsmodell, indem sie es ermöglichen, die jeweilige Software auch auf einem gewöhnlichen PC zu spielen. Erste Klagen wurden zugunsten der Konsolenhersteller entschieden, doch ist es fraglich, ob sich die Entwicklung dadurch stoppen lässt. 

Wenig Änderungen bei den Konzepten 

Trotz der steigenden Nachfrage und trotz den technischen Fortschritten lassen sich kaum neue Spielkonzepte ausmachen: Die Industrie setzt auf Bewährtes und versucht - ähnlich wie beim Film - den Erfolg von Blockbustern zu verlängern. Am eindrücklichsten geschieht das beim Spiel «Tomb Raider», dessen vollbusige Hauptfigur Lara Croft mittlerweile Kultstatus erreicht hat und zu einer eigentlichen Ikone der elektronischen Kultur geworden ist: 150 bis 200 Millionen Dollar hat der US-Hersteller Eidos Interactive mit Spielen mit dieser aggressiven Schönheit bisher umgesetzt. Auf dem Markt gibt es drei Versionen, dem Vernehmen nach arbeiten die Software- Ingenieure bereits an einer vierten. 

Als eines der ersten Computerspiele erlangte ein Pingpong-Spielautomat in den siebziger Jahren Popularität. Mit zwei schmucklosen Balken liess sich ein weisser Punkt reflektieren. Seither haben sich verschiedene Spieltypen herausgebildet. Ins Genre der Simulatoren und Simulationen gehören etwa der Flugsimulator von Microsoft und die Wirtschaftssimulation «Simcity». Strategiespiele wie «Age of Empires» oder «Command & Conquer» simulieren militärische Kampagnen auf dem Reissbrett. Fast klassische Vertreter des Genres Abenteuer- und Rollenspiele sind die Spiele «Myst» und «Riven»; erfolgreichstes Rollenspiel im vergangenen Jahr war «Zelda». Berühmtestes Beispiel eines Action Game ist das bereits erwähnte «Tomb Raider» mit Lara Croft. Bei den Hüpf- und Rennspielen (Jump'n'Run Games) rennt eine Hauptfigur - gesteuert vom Joystick des Spielers - durch labyrinthische Gänge, in denen allerlei Gefahren drohen, die sich in der Regel mit einem gewagten Sprung überwinden lassen. Berühmtestes Beispiel ist die Serie von Spielen rund um die Figur des Super Mario des Herstellers Nintendo. 

Blutlachen statt Kussflecken 

Schon Anfang der neunziger Jahre interessierte sich die Filmindustrie von Hollywood für die Welt der elektronischen Spiele. Erste Versuche, die Inhalte vom Computerbildschirm auf die Leinwand zu bringen, scheiterten. In jüngster Zeit häufen sich erneut die Versuche, vermutete Synergien auszunutzen. Aktuelles Beispiel ist die Vermarktung von «Star Wars»: Zeitgleich mit dem Film hat die Produktionsfirma von George Lucas zwei Computerspiele auf den Markt gebracht, welche das «Star Wars»-Gefühl als interaktive Unterhaltung nach Hause tragen sollen. Auch Disney vermarktet parallel zu seinen Trickfilmen jeweils eine Serie von Computerspielen. Das Muster könnte sich in den nächsten Jahren umkehren: Lawrence Gordon und Lloyd Levin von Paramount Pictures wollen aus dem Bestseller- Spiel «Tomb Raider» und seiner Kultfigur Lara Croft einen Film machen, und die Branchenmagazine spekulieren bereits darüber, wer den Part der vollbusigen Revolverheldin spielen darf. Auch andere sollen verfilmt werden, so das Kampfspiel «Mortal Kombat III», die Spiele «Duke Nukem» oder das wenig sympathische «Resident Evil». 

Die Software-Industrie will in jedem Fall die Kontrolle über das Endprodukt behalten. So macht Eidos Interactive, Hersteller von «Tomb Raider», den Filmproduzenten klare Vorgaben: keine Nacktszenen, kein Sex und «no smoking». Weniger Probleme scheint man demgegenüber mit den ständigen Schiessereien zu haben. 

Das Ende der Jugend 

Bleibt die Frage: Wer sind die Konsumenten von Computerspielen? - Natürlich gehören Kinder und Jugendliche dazu, und wer an einem schulfreien Nachmittag durch die Spielwarenabteilungen der hiesigen Warenhäuser wandert, findet diese These auch bestätigt. Aber es sind nicht nur Kinder, sondern zunehmend auch junge, männliche Erwachsene: Dies bestätigen auch Importeure und Hersteller. Renato Meier, der mit der Basler Waldmeier AG den japanischen Hersteller Nintendo vertritt, glaubt allerdings auch an einen Mentalitätswandel. Erwachsene hätten auch früher gerne gespielt, es sei heute einfach kein Problem mehr, dazu auch zu stehen. Die Kinder von gestern sind mit ihren bevorzugten Spielzeugen älter geworden, und mit ihnen sind auch die Möglichkeiten der Computer Games gewachsen. 

Rund um die Flugsimulationsspiele, die übrigens auch von Flugprofis ernst genommen werden, hat sich ein Zirkel von Anhängern gebildet, die mit einer Ernsthaftigkeit, die schon fast an Besessenheit grenzt, spielen und - via Internet - virtuelle Fluggesellschaften gegründet haben. Anhänger des blutrünstigen Kultspiels «Quake» organisieren sich auch hierzulande als Gruppe und treffen sich zu eigentlichen Meisterschaften übers Internet, aber von Angesicht zu Angesicht. Völlig unabhängig von der Herstellerfirma Sony werden auch in der Schweiz Playstation-Treffen organisiert. Zielgruppe sind junge Erwachsene, die Turniere spielen sich nachts in der Bar- und Disco-Szene ab. Die geschilderten Phänomene mögen noch kleinere Gruppen betreffen - es gibt aber auch Anzeichen, dass sich das Interesse an Computerspielen ausweitet: Ältere Jugendliche und junge Erwachsene sollen mit der Sendung «Giga» im Kanal NBC, an dem auch Microsoft beteiligt ist, angesprochen werden. Ganz ähnlich ist das Bild beim Schweizer TV-Sender Star TV, der mit der Sendung «Komabros.» ein Programm gestaltet, das sich ausschliesslich mit neuen Spielen für die Playstation von Sony beschäftigt. 

Dies alles deutet darauf hin, dass Computerspiele zu einem eigenständigen kulturellen Phänomen geworden sind, das immer mehr über die Jugendkultur im engeren Sinn hinauswächst. Wohin die Entwicklung geht, lässt ein Blick auf Japan erahnen: Dort gibt es bereits zielgruppenspezifische Spielsortimente für Manager. 

* Der Autor arbeitet bei Migros Kulturprozent im Bereich Science & Future. 

Neue Zürcher Zeitung, 27. August 1999